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Wutentbrannt

Benni (Helena Zagel) ist wütend. Benni rastet aus. Egal, wohin sie kommt, früher oder später fliegt die Neunjährige aus Wohngruppen oder Heimen, zur Schule geht sie schon gar nicht mehr. Sie schreit, sie ist aggressiv, sie ist nicht zu kontrollieren. Benni ist ein Systemsprenger: Das Jugendhilfesystem ist mit ihr überfordert. Dabei hat sie mit Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) eine engagierte Sozialarbeiterin, sie hat immer wieder ErzieherInnen, die sich Mühe mit ihr geben. Aber diese Wut, diese Aggressionen lassen sich nicht kontrollieren. Deshalb findet Frau Bafané kaum mehr einen Platz für sie. Eine Unterbringung in der Geschlossenen scheint für alle anwesenden ErzieherInnen die einzige Lösung, nur Frau Bafané wendet ein, dass Benni dafür noch zu jung ist. Dann hat Bennis neuer Schulbegleiter Micha (Albrecht Schuch) eine Idee: Eigentlich arbeitet er mit straffälligen Jugendlichen, mit sechs von ihnen ist er schon in ein Haus im Wald gefahren. Drei Wochen ohne Strom, ohne Elektrizität. Das habe geholfen.

Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt lässt sich in Systemsprenger ganz auf ihre Hauptfigur ein: Wenn Benni austickt, dann überlagern sich Bildfetzen, wird die gesamte nicht zu bändigende Energie deutlich, die sie überkommt. Wenn sie gegenüber anderen Kindern gewältig wird, auch dann bleibt die Kamera nah an Benni, ohne dass sie in diesem Moment zeigt, was Benni tut. Am Rand des Bildes sind die Folgen zu erahnen. Dadurch wird spürbar, wie dieser Kontrollverlust für Benni ist, wie viel ungebändigte Energie in ihr steckt.

Über ihren Hintergrund erfährt man nach und nach mehr, durch Bilder, durch Gespräche, die die Erwachsenen miteinander führen: Sie rastet aus, wenn ihr jemand ins Gesicht fasst, weil ihr wohl als Baby Windeln ins Gesicht gedrückt wurden. Sie will eigentlich nur bei ihrer Mutter Bianca sein, aber die ist nicht nur überfordert mit ihrer Tochter und den anderen beiden Kindern, sondern auch wieder mit dem gewalttätigen Freund zusammen. Dass hierher ein anderes Trauma kommt, wird anhand der Bildfetzen deutlich: Einmal sperrt er Benni in einen Schrank. Diese Perspektive kennt das Publikum schon, aus einem von Bennis Anfällen. Vielleicht war es ein Wutanfall, vielleicht überkam es sie aber auch in der Nacht, wenn sie wieder einmal ins Bett gemacht hat.

Mit Micha kommt Benni nach einer Weile gut zurecht. Man spürt, dass alles, was sie will, ein Mensch ist, der für sie da ist. Eigentlich will sie zurück zu ihrer Mutter, aber ein wenig hofft sie auch darauf, dass Micha ihr hilft. Doch er erkennt, dass er die Distanz verliert bei der mageren Neunjährigen, er entwickelt Retter-Vorstellungen und weiß, wie unprofessionell das ist.

Das ständige Wechseln von Orten, von Bezugspersonen, von Kindern, die mit ihr dort leben, machen etwas mit Benni, das ist völlig klar. Sie macht sich schon nicht mehr die Mühe, die Namen der ErzieherInnen zu erlernen, sondern brüllt einfach ein „Erzieher!“, wenn sie etwas will. Dabei zeigt sich das Versagen des Systems hier nicht darin, dass niemand hinsieht, dass sich niemand kümmert. Benny ist schlichtweg ein extremer Fall – und für sie gibt es keine Lösung. Eine Therapie bekommt sie erst, wenn sie ein stabiles Umfeld hat. Aber ohne Therapie findet sie kein stabiles Umfeld.

Ein Kind wie Benni ist kein Einzelfall: Aber wenn eine Neunjährige, die zu viel Energie und zu viel Mist in ihrem Leben hat, keine Hilfe bekommt, wenn man ahnt, dass sie keine Zukunft hat, dann bricht einem das das Herz. Systemsprenger gelingt das Kunststück, dass man versteht, warum Benni auch pädagogisch geschultes Personal an seine Grenze bringt, warum selbst Menschen, die ihr wohlgesinnt sind, aufgeben. Sie ist unglaublich anstrengend. Und brutal. Und doch liebenswürdig. Denn ihr ganzes Verhalten ist doch – so klischeehaft es klingen mag – ein einziger Schrei nach Hilfe. Jedes Mal, wenn Benni wieder enttäuscht wird, schmerzt es, dass wieder eine Chance vergeben wurde, wieder eine Hoffnung vergebens war. Sie ist doch erst neun Jahre alt. Und mit neun Jahren sollte man noch nicht aufgegeben haben – oder aufgegeben worden sein. (Kino-zeit.de)